Das frühe Meer

Die letzten Meter rauben uns den Atem, steil aufwärts zwischen Singvögeln und Sanddorn, schwere Schritte auf Pflastersteinen. Feiner Sand legt sich in den Mund, von der Anstrengung geöffnet. Zwischen Dünen führt der Pfad verschlungen entlang, vorbei an einem Holzspielplatz und einem Radweg. Ein Jogger in grellorange trabt uns entgegen, erst klein, dann immer größer, bis er schnaufend an uns vorbeizieht, man kann seine Schritte nicht hören, nur seinen Atem, dann verschwindet er hinter der nächsten Biegung des Weges. Auch wir sind nicht stehen geblieben und  sehen jetzt endlich das Meer.

Weit weg schäumt es weiß auf blaugrau unter dem Blau des Himmels, hinter dem schmutzigen Beige eines Nordseestrands im Herbst. Ein paar dunkle Punkte bewegen sich am Rand des Wassers, große, kleine, solche, die breiter sind als hoch. Weiße Punkte sammeln sich gruppenweise in Sicherheit. Eine Strandbar zu unserer Linken, geschlossen und versiegelt, außerhalb der Saison. Der Weg aus Stein endet, die ersten Schritte tun wir uns schwer auf dem nachgebendem sandigen Boden. Unsere Nasen laufen und wir den Strand hinab.

Die Sonne steht in unserem Rücken, scheint blass durch die lichte Wolkendecke, spendet mal Licht und Wärme, mal taucht sie die Welt in ein Potpourri aus Grau. Vor uns meterweit Strand, das Meer wirft sich sicher vor Besuchern hinter einem Priel in den Sand und zieht sich wieder zurück. Die schwarzen Punkte werden größer, werden braun, blau, bunt, werden Menschen, große und kleine und Hunde, große und kleine. Viele sind zu dieser frühen Stunde nicht hier, man hört kein Rufen, kaum Bellen, hört das Meer nicht, auch nicht die Möwen, man hört nur den Wind, der plötzlich aufgetaucht ist und unseren Rücken stärkt. Das Kinn im Kragen der Regenjacke verborgen gehen wir in Richtung Wasser, lassen eine Großfamilie mit einem alten und müden Retriever hinter uns zurück.

Auf dem Weg zum Wasser. Spuren im Sand, von großen Schuhen mit massiven Profilen, von kleinen, sehr kleinen flachen Schuhen, kaum in den feinen feuchten Sand eingedrückt. Von Hunden, man kann die Krallen der Pfoten und auch die Schnauze erkennen, die im Sand gewühlt hat. Von Pferden, ob es eines oder zwei waren können wir nicht sagen. Ein Traktor oder ein anderes Ungetüm muss seit der letzten Flut hier gewesen sein. Die Schritte knirschen ungewohnt laut auf dem Sand: wir blicken zu unseren Füßen und sehen, dass wir Unmengen an Muscheln mit jedem Schritt zertreten.

Am Rande des Priels eine kleine Familie, Mutter, Vater, Tochter, Sohn, Zwergschnauzer. Er zieht ein langes geknüpftes Seil hinter sich her, eine Schleppleine Marke Eigenbau, am einen Ende sein Halsband, am anderen Ende nichts. Er jagt von links nach rechts am Ufer des Priels entlang, halbe Kraft kennt er nicht, zurück zur Familie um dann wieder zurück zum Ufer aufzubrechen. Er sieht uns und stürmt auf uns zu. Springt an uns hoch, sandnasse Pfoten auf Jeans. Du kraulst seinen Hals, er leckt mir die Hand. In der Bewegung erstarrt er plötzlich, fixiert etwas für uns unsichtbares und nach einem Moment der Beobachtung jagt er los, das Seil hinter sich her schleppend, uns offenbar bereits aus seinem Gedächtnis verdrängt.

Wir treten an das Ufer des Priels und blicken nordwestlich zum Meer, das noch viele Schritte entfernt im gewohnten Rhythmus kommt und geht. Stehen da und sagen nichts, den Wind im Rücken, das Meer so nah und doch so fern. Du drehst dich um, westwärts, “Man muss in alle Richtungen gucken.” sagst du und ich muss lächeln.

Hand in Hand treten wir den Rückweg an. Der Gegenwind pfeift uns um die Ohren und zerzaust dein Haar. Strand im Herbst? Nur im Herbst.

Rausposaunen

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