Ich öffne die Wohnungstür und betrete das dunkle Treppenhaus. Von außen scheinen die Straßenlaternen hinein, grob erkennt man Schemen, Türeingänge, Treppenabsätze, das Geländer. Mehr braucht man eigentlich nicht, schließlich war man schon so oft hier. Dennoch schalte ich das Licht ein, verabschiede mich von M. mit unserem Handschlag, dem, der nur für uns beide vorbehalten ist, lang erprobt, doch nie so, dass es flüssig oder gar lässig wirkt. Ein paar letzte Worte werden gewechselt, dann laufe ich schon die ersten Treppenstufen hinab, M. schließt die Tür, er muss immer noch einmal nachdrücken, damit sie wirklich ins Schloss fällt. Ich laufe die beiden Etagen hinab, unten im Hausflur lehnt das Fahrrad an der Wand. Etwas unbeholfen stecke ich die Lichter an Lenker und Sattelrohr, das Licht schaltet sich im Treppenhaus ab. In Dunkelheit beende ich meine Arbeit, öffne die Haustür und rolle im nächsten Augenblick die Straße hinab.
Hinaus in die Nacht. Tagsüber hat es geregnet, die Straße glänzt noch ein klein wenig und hier und da stehen noch die Pfützen am Fahrbahnrand. Es fällt mir schwer diesen dunklen Stellen auf dem sowieso dunklen Asphalt auszuweichen, zu sehr ist mein Blick auf das gerichtet was um mich herum an mir vorbei zieht. Es ist spät. An der nächsten Kreuzung warte ich gemeinsam mit zwei Fahrzeugen auf Grün – es sollen die letzten Fahrzeuge sein, die mir auf diesem Weg begegnen.
Grün. Ich fahre an und verlasse wenige Meter später endgültig die Lichtkegel der Straßenlaternen. Wo ich hinfahre, gibt es kein Licht. Eine abgelegene Straße wird zu einem Wirtschaftsweg, vorbei an den ältesten Häusern des Ortes, vorbei an Bauernhöfen, vorbei an Holzöfen, vorbei an großen stählernen Toren mit einem aufmerksamen Hund dahinter, an Landmaschinen, wie schlafende Riesen, vorbei an Trafohäuschen. Ein letztes Mal kreuze ich eine Landstraße, doch auch hier ist niemand, kein Leben. Die letzten Häuser verschwinden, werden hinter meinem Rücken kleiner. Und vor mir öffnet sich die Welt der Felder.
Diese Felder glühen vor Erinnerungen. Hier waren wir oft, jung, dumm, wild, vor allem neugierig. Haben uns durch die Felder geschlagen, kamen in gelben Schuhen von der Kartoffelblüte heim. Im Mais haben wir Pfeifen aus Maiskolben gebaut. Im Raps haben wir uns versteckt. Durch die Gerste sind wir einfach nur geschlendert, die Hände ausgestreckt, immer wieder nach den Ähren gegriffen und sie uns durch die Handflächen gleiten lassen. Hier waren wir zu Fuß, auf dem Fahrrad und auf den Inlinern. Hier waren wir bei Sonnenschein, bei Nebel, bei Regen. Direkt nach der Schule, oder abends, kurz bevor wir wieder zu Hause sein mussten. Wir haben geschwitzt und gefroren. Man könnte meinen, ich hätte meine Kindheit in diesen Feldern verbracht. Vermutlich wäre das auch gar nicht gelogen.
Der Mond steht voll am Himmel und tut wieder nichts. Vor mir die kargen Felder, schon vor Wochen abgeerntet. Der blasse Lichtkegel meiner Lampe zeigt mir den Weg, hinter mir tropft es rot auf den Wirtschaftsweg. Ich halte an. Lautlos. Knipse für einen Moment meine Beleuchtung aus, stehe im Mondlicht und höre den Wind pfeifen. Am Horizont drehen sich die Windkraftanlagen, blinken rot, einmal kurz, einmal lang. Über mir knistern die Stromleitungen der Hochspannungsmasten. Ich höre einen Wagen auf der Landstraße, weit entfernt, entlang fahren. Ich atme ein, ich atme aus, ich rieche das Feld, rieche den nassen Asphalt. Ich bin versucht abzusteigen und eine handvoll Erde zu greifen, sie zwischen den Fingern zu verreiben und kurz eins mit dieser Landschaft zu werden.
Ein Grollen lässt mich aufblicken. Ich drehe mich um, sehe weit, weit entfernt ein Feuerwerk brennen, der Ton gänzlich asynchron zum Bild, erst sehen, dann hören. So ist das hier, denke ich mir. Es stehen keine Häuser im Weg, nichts, was den Himmel einschränkt. Ich kann einfach in die nächste große Stadt sehen, kann sie sogar hören. Alles ist weiter weg hier, denke ich, als ich das Licht wieder anknipse und anfahre. Durch das Mondlicht fahre ich den letzten Kilometer nach Hause. Ich blicke den Mond an und frage mich, wieso man sein Licht als fahl bezeichnet, viel mehr beige scheint es heute Nacht zu sein.
Bäume säumen nun wieder die Straße. Eine letzte Kurve, blind für das was vor mir liegt, da der Schein meiner Lampe nur geradeaus strahlt. Eine Autobahnbrücke bringt mich wieder zurück ins Licht von Straßenlaternen. Ich kann meine Wohnung sehen, das Licht scheint golden heraus. Ein letztes Mal trete ich in die Pedale, den Rest rolle ich. Lautlos.