Noch vor einer Woche war alles im Rahmen, alles ganz normal, alles strukturiert. Sicher, es gibt immer diese großen Kleinigkeiten, die das Leben verkomplizieren, einen Spießrutenlauf aus dem Alltag machen, Steine im Weg, Mauern, Flüsse ohne Brücken, Papierbälle im Nacken, ein ausgestrecktes Bein, ein ausgestreckter Finger, Dinge, die sich im Auge des egozentrischen Betrachters der Gegenwart als Widerstände kosmischen Ausmaßes darstellen und deren Auswirkungen dem Ende des Ichs gleichzusetzen sind. In Gedanken. Im Jetzt. Doch tatsächlich weiß ich und weiß jeder, dass es eben diese Dinge sind, die ein Leben vervollständigen und ausmachen. Dass wir deren Wert erst in der Retrospektive erkennen. Dass alles halb so wild ist. Und jetzt stehe ich hier, denke zurück an meine lächerlichen kleinen Probleme. In einer Woche bin ich Mensch geworden, zuvor war ich Kind. Und hier, an dieser Klippe, an diesem Leuchtturm wird mir meine Winzigkeit bewusst. Und die meiner Sorgen. Eine Woche.
Es ist der Leuchtturm an dem es begann. Und der Leuchtturm an dem es also enden wird, irgendwie habe ich es geahnt, die ganze Woche lang. Ich sah ihn im tosenden Wind, der Himmel ein Anthrazit, der Sturm direkt vor der Küste. Ich sah ihn im strahlenden Sonnenschein, im Morgengrauen, von Walkadavern umgeben im Nebelgrau. Die Wale! Und die Vögel! All die Vögel, die vom Himmel fielen, erst ein paar, dann viele, dann wie eine einzige Masse, ein einziger großer Organismus der gegen Fensterscheiben fliegt und die Räume dahinter in ein gespenstisches Dunkelrot taucht. Die Eichhörnchen, unbeeindruckt davon, dass die Welt zerbricht. Noch. Noch!
Es ist schwer genug erwachsen zu werden. Ohne vermisste Personen, ohne gestrandete Wale, ohne zwei Monde am Himmel, ohne einen Serienkiller, ohne einen Selbstmord, ohne eine beste Freundin im Kummer, allein durch meine Hand. Ein schwieriges Alter, sagen die Alten. Vermutlich haben sie längst vergessen was es heißt, jung zu sein, erwachsen zu werden, die Irritationen des Aufwachsens und Erwachens zu durchleben. Die Angst etwas falsch zu machen. Und alle lachen. Die Erkenntnis, dass man nicht dazu gehört und die ewige Frage, warum. Und die Gefühle, diese großen Gefühle, alle kommen sie auf einmal, plötzlich und man versteht sie nicht. Wie der Moment, in dem ich C. küsse. Mein Herz sagte es mir. Und es fühlte sich so gut an, so richtig, nach all der Zeit sind wir wieder beieinander! Unzertrennlich! Und da, genau da, in diesem Gedanken, in diesem Moment dämmerte mir, dass wir eben doch zertrennlich sind. Dass ich mich womöglich einer Illusion hingegeben habe. Illusionen. Eine gefährliche Sache.
Ich habe K. verloren. Dabei hätte sie nur mich gebraucht, keine weitere Alternative, keine Entscheidung, nur mich. Ein offenes Ohr, ein offenes Auge, ein offenes Herz. Nichts davon hatte ich, habe mich auf falsche Dinge verlassen, auf die Illusion, ich hätte alles im Griff, doch war lediglich übermütig. Nun ist sie weg. Und so wie sie zerbricht, zerbricht alles um mich herum.
Die Realität wird verzerrt. Ein Flur mit Türen, die nur in den Flur mit Türen führen. Ein Weg aus Trümmern, im schwarz des Nichts, schwebend. Ein gewaltiges baumhohes Eichhörnchen vor dem Fenster. Freunde, die mir Vorwürfe machen, Feinde, die sich verständnisvoll und einladend geben. Ich sehe meine Vergangenheit rückwärts laufen, alles um mich herum ist rückwärts, die Sprache, der Gang der Menschen, ja sogar die Schrift auf den Wänden, rückwärts. Nur ich. Ich gehe vorwärts, denke vorwärts. Gegen den Strom. Ein Alptraum, der nicht zu enden scheint, immer absurder wird. Bis jetzt. Bis hier. Der Leuchtturm.
C. blickt mich an, reicht mir das Foto und verlangt das Unfassbare von mir. Kurz durchströmt mich die Angst, die Panik eine falsche Entscheidung zu treffen. Doch eigentlich ist alles klar. Ich sehe klar. Die Zeit friert ein.
Es ist an der Zeit weiter zu gehen. Das alles hier hinter mir, hinter uns zu lassen. Wer weiß, was die Zukunft bringt? Im Endeffekt ist es egal, welche Entscheidung ich treffe – für die kurze Dauer unserer Anwesenheit spielt es keine Rolle ob Ja oder Nein, ob X oder B, ob Kreis oder Quadrat. Ich war Kind, jetzt bin ich Mensch. Doch bin ich erwachsen? Bin ich fertig? Nein. Es gibt noch so viel Leben zu leben. Es gibt noch so viele Eisenbahnschienen, die es abzugehen gilt. Hand in Hand. Dieser Roadtrip, auf den ich mich schon so lange freue. Eine Ausstellung mit meinen Fotos. I still have a tattoo to get. Und ich sein. Ich sein und da sein.
Ich fälle meine Entscheidung und fühle mich wohl dabei, die Alternative spielt für mich keine Rolle. Es ist Zeit nach vorne zu sehen. Es wird alles gut.
Ich kann es kaum erwarten.