Eine Autobahn tief im Westen. Einer jener Autobahnabschnitte, die so unbedeutend sind, dass man sie aus den Verkehrsnachrichten nicht kennt, die treue und zuverlässige Arterien und Venen im Aderngeflecht der Straßen darstellen, klein, unbekannt, aber wichtig und eine echte Größe in der Region. Es ist Abend geworden, die Sonne im Rücken ist bereits zum großen roten Ball angewachsen, schickt sich an, den Horizont zu berühren und sich final hinter ihm zu verstecken. Heute wird man sie nicht mehr sehen. Heute wird nun dunkel. Heute ist nicht mehr lange heute, es wird Abend, es wird Nacht und schon ist das Heute ein Morgen geworden. In einem letzten Gruß explodiert der Himmel in rot und orange, in braun und gold. Und Licht wird zu rot, wird zu grau, wird zu schwarz. Wir jagen davon, stundenkilometerschnell. Vor uns liegt bereits das Dunkel.
V. und W. unterhalten sich im VW. Es geht um das sich Niederlassen, um das Bauen eines Hauses, das Gründen eines zu Hauses, des letzten, des finalen, des zweiten echten zu Hauses, nach dem Ort der Kindheit. „Ich habe gewisse Vorstellungen was mein Haus angeht, darum habe ich auch gar keine andere Wahl. Es hat mit der Familie zu tun, deswegen muss ich es selbst bauen. Jeder in meiner Familie hat sein Haus selber gebaut.“, lässt V. wissen. W. hört aufmerksam zu, lässt ein „Mhm.“, ein „Okay.“, ein „Aha?“, ein „Ach so!“ vernehmen, unterbricht seinen weiteren Monolog nicht und ich gehe im Fluss seiner Erzählung auf, fast hypnotisch. Seine monotone Stimme tut ihr übriges, ich schweife in Gedanken ab, nehme nicht mehr alle Details seiner Erzählung auf, verliere Wörter, Sätze, bis es ein Grundrauschen wird.
Ich schweige, blicke vom Beifahrersitz aus dem Fenster. Der Mond steht in Dreiviertelpracht niedrig am Himmel, überragt nur knapp die Spitzen der Nadelbäume, die in einiger Entfernung südlich von uns in den Himmel ragen. Groß und hell ist er. Und der dunkle Niederrhein zieht an mir vorbei. Kleine Orte zerreißen die Dunkelheit mit ihren orangen Lichtern im Dunkelblau. Eine Autobahnraststätte mit greller und bunter Leuchtreklame. Ein Fahrzeug auf dem Standstreifen, Warnblinker, der Fahrer in leuchtender Warnweste hinter der Leitplanke, Hände in den Hosentaschen, wartend. Ein SUV rast zu unserer linken an uns vorbei, wir und der Wagen werden durchgeschüttelt und schon wird der schwarze Geländewagen kleiner, verschwindet bereits hinter der nächsten, langgezogenen Kurve.
Links das gelbe, weiße Licht der Scheinwerfer, rechts das rote, fast violette Licht der Rücklichter, Bremslichter, die Autobahn ein gespaltener Ort. Wie nah die beiden linken Spuren aneinander liegen, wie schnell man aneinander vorbeirast. Strangers passing by. Links und rechts ziehen die gestrichelten Linien der Fahrbahnmarkierung an uns vorbei. Ich frage mich, wie lange die Streifen sind. Zwei Meter, drei? In hypnotischer Regelmäßigkeiten leuchten sie auf dem dunklen Asphalt auf, verschwinden, tauchen auf, verschwinden…
„Was macht ihr morgen?“, höre ich von V. auf der Rückbank, werde wieder in das Hier und Jetzt geholt, wieder zurück in den Wagen. W. setzt den Blinker rechts, wir fahren hier ab. Für einen kurzen Moment fahren wir auf den Mond zu, bis wir abdrehen. „Nichts.“, antworte ich, der Wagen kommt an der Ampel zum Stehen. „Sonntag eben.“, murmele ich. Und wir nehmen die letzten Kilometer in Angriff. Nach Hause. Oder jedenfalls das, was wir zu Hause nennen.